Prolog - Teil 2

"Wir treffen uns dann um eins am Bahnhof, ok?", ihre Freundin Saskia klang ein bisschen aufgeregt am Telefon, "Ja, ich will das probieren, mal schauen wo man parken kann", entgegnete Sandra. "Super, also ich freue mich drauf, bis gleich.", Saskia schien sich wirklich darauf zu freuen mit Sandra in eine Männerdomäne einzubrechen. Sandra war sich da nicht so sicher. Sie war eigentlich weder gerne unter vielen Menschen, noch verstand sie auch nur ansatzweise etwas vom Fußball. Aber ihre beste Freundin Saskia hatte ihr zur Feier ihrer bestandenen Facharztprüfung zwei Tickets für das seit langem von der ganzen Stadt herbeigefieberten Spiel gegen München geschenkt. Es war wohl ganz schön schwierig gewesen, diese Tickets direkt an der Mittellinie zu bekommen, und die Idee war ja auch sehr außergewöhnlich gewesen, also hatte Sandra zugesagt. Warum auch nicht? Ihr Freund Marco hatte heute sowieso keine Zeit, wollte mit ein paar Kumpels abhängen oder so. Schon komisch, dass er überhaupt kein Interesse an diesem Spiel zu haben schien, wo er doch sonst die Tabelle 'rauf und 'runter beten konnte. Sie legte die Zeitung mit den Stellenangeboten beiseite, das brauchte sie jetzt ja nicht mehr zu interessieren. Reine Gewohnheit hatte sie geritten, dass sie sich diesen Teil wie immer zuletzt vorgenommen hatte. 

Da es ein schöner Tag Anfang Mai war, beschloss Sandra sich nicht zu dick anzuziehen, Jeans und einfaches Shirt in grün sollten reichen um die Verbundenheit mit dem Heimatverein im Weserstadion zu symbolisieren, die kurze Jeansjacke drüber gezogen, und los gings. Kaum war sie aus der Tür ihrer Wohnung getreten, fühlte sie auch schon diese merkwürdige Atmosphäre, die sich in der gesamten Stadt auszubreiten schien, wie ein kollektives Kribbeln im Bauch. Auf dem Weg zu ihrer Laternengarage kamen ihr schon andere Wagen mit Werderfahnen an den Fenstern entgegen und sogar ein Bus aus München kurvte herum, der schien sich wohl trotz moderner Navigationsgeräte verfahren zu haben.


Sie hatte vor, auf dem Großparkplatz am Bahnhof zu parken und machte sich nun in ihrem uralten Golf auf den Weg. Ein neues Auto wollte Sandra sich gönnen, wenn sie ihre erste feste Stelle im August angetreten haben würde. Fachärztin für Unfallchirurgie an der Charité in Berlin, ja, es würde stressig, aber toll werden. Da war sie sich sicher. Nur das sich Marco noch nicht sicher war, ob er mitkommen sollte nach Berlin, dass war noch ein Wermutstropfen, aber sie würde ihn schon noch umstimmen können, ganz sicher. Und gute Verkäufer würden schließlich auch in Berlin gebraucht. Kaum hatte sie diese Gedankenspiele zuende gebracht, war sie auch schon auf der Bürgerweide angekommen. Von hier bis zum verabredeten Treffpunkt waren es kaum fünf Minuten zu Fuß. Warum man sich allerdings um 13:00 Uhr treffen sollte, wenn das Spiel doch erst um 15:30 Uhr losging, auch das gehörte wohl zu dem ganzen Mysterium "Fußball" dazu. Je näher sie dem Treffpunkt kam, desto mehr Männer und auch Frauen, die sich in die merkwürdigsten Fanutensilien gekleidet hatten, sah sie aus allen Richtungen auf sich zukommen. Die Farben grün und weiß beherrschten die Szenerie aber auch vereinzelte rot-weisse Fans der anderen Mannschaft konnte man sehen. Hunderte, ja tausende Menschen mussten jetzt unterwegs sein. "Sind hier eigentlich Sanitäter oder Notärzte vor Ort, bei so vielen Menschen?" schoss es ihr durch den Kopf. Im selben Moment musste sie über sich selber grinsen, immer übervorsichtig und nie richtig abschalten können, so war sie schon immer gewesen. 


Und da stand Saskia auch schon, aber was war mit ihrer Freundin geschehen? Von dem alten Werdertrikot über gefühlte fünfzehn Fanschals bis hin zu den grün-weißen Strähnen in den langen, leicht gewellten, blonden Haaren fehlte nichts um sie als Hardcore Fan auszuzeichnen. "Hammer, wie siehst du denn aus?", mehr fiel Sandra zur Begrüßung nicht ein. "Hey Süße, lebenslang Grün-Weiss ist nicht nur ein Spruch", erwiderte Saskia mit einem breiten Grinsen. "Und jetzt genieße einfach die Atmosphäre und das ganze drumherum. Schalte einfach mal ab, und lass' dich gehen. Es wird dir gefallen".  Gemeinsam gingen die beiden Freundinnen zur Straßenbahnhaltestelle um die nächste Verbindung zum Stadion zu bekommen. Dort standen schon an die 100 Fans bereit und warteten ungeduldig auf die avisierte Bahn. Saskia und Sandra gesellten sich dazu. "Was sagt eigentlich Marco dazu, das du heute zum Fußball gehst? Das muss ihn doch bestimmt ärgern, das du mit mir mitgehst und mit ihm nie wolltest?", frage Saskia unbekümmert. "Ach, der weiß das noch gar nicht. Wir haben uns seit Donnerstag nicht gesehen, er hatte soviel zu tun, Termine und so. Und beim telefonieren hab' ich glatt vergessen, ihm das zu sagen. Wir waren so damit beschäftigt, die große Party zu planen.". "Na der wird gucken, wenn du ihm dann heute Abend erzählst, wo du warst, wa?". "Ja," lachte Sandra, " der glaubt das nie, dass ich mit dir bei Werder war.". Das Gedränge wurde stärker und die beiden jungen Frauen mussten aufpassen, nicht zerdrückt zu werden. Hier gab' es keine Rücksicht für Frauen oder alte Leute, der Mob wollte in die Bahn! Nach gefühlten 30 Minuten des Schiebens und Schubsens waren dann endlich beide in Inneren der Bahn angekommen. Sie hatten sogar ein wenig Platz im Mittelgelenk der Straßenbahn gefunden und konnten relativ bequem stehen. "Puha, so was habe ich ja noch nie erlebt, als wenn es ab sofort keine Züge mehr gibt." schnaubte Sandra sichtlich mitgenommen. Saskia hingegen strahlte über das ganze Gesicht: "Ich liebe Fußball, diese ungefilterten Emotionen". "So was kann auch nur von einer Psychologin kommen.", ereiferte sich Sandra, "Und zu mir sagen, ich soll mal abschalten". "Ach lass' doch," erwiderte Saskia, "ich schreib' doch nun mal meine Doktorarbeit über Massenverhalten, da gehören Liveexperimente doch dazu".


Inzwischen hatte sich das Fahrzeug in Bewegung gesetzt und fuhr langsam in Richtung Stadion. Die Luft wurde rapide schlechter und die kleinen Klappfenster wurden geöffnet. Schwaden von Bier- und Schweißdüften zogen an ihrer Nase vorbei. Einige ihrer Mitfahrer hatten sich sogar verbotenerweise eine Zigarette angezündet aber mit einer Kontrolle war hier und jetzt nicht zu rechnen. Weiter vorne hatte sich ein Trupp Fans zusammengetan und skandierte Lautstark: "Gebt mir ein HAAAAAAAAA" - "HAAAAA" und weitere Buchstaben folgten, um danach wie bekloppt auf und ab zu springen, dass fast die ganze Bahn ins Wackeln geriet. Hinter den beiden Freundinnen probierten ein paar Bayernfans ein Schmählied anzustimmen, das aber relativ schnell unterbrochen wurde, weil ein hundert stimmiges "WERDER WERDER" rufen diesen Versuch im Keim erstickte. So verging diese unterhaltsame Fahrt schnell und schon nach gut 20 Minuten standen die beiden jungen Frauen an der Haltestelle vor dem Tunnel zum Stadion. Auch hier liefen mehrere Hundert fröhliche Fußballfans herum. Vor der stadtbekannten Fankneipe "Taubenschlag" standen, wie bei jedem Heimspiel, Trauben von Menschen herum um ihren Alkoholspiegel auf Betriebstemperatur zu bringen. Überall konnte Sandra Fetzen von Unterhaltungen aufschnappen, Namen und Daten. Das meiste sagte ihr nichts, sie wusste ehrlich gesagt nicht einmal wer aktuell für die beiden Mannschaften spielen würde. Der letzten Spieler an den sie sich erinnern konnte war ein gewisser "Ailton" gewesen, aber das war Ewigkeiten her. Endlich hatten sie den Tunnel unter der Hauptstrasse am Stadion hinter sich gelassen und konnten das erste mal den Blick auf das komplett mit Solarzellen verkleidete Weserstadion werfen. Wie ein notgelandetes Ufo lag dieser Riesenbau an der Weser. Ameisen gleich umströmten die Menschen den gewaltigen Bau. An diversen Bier- und Fressbuden auf dem Vorplatz standen lange Schlangen um sich für den bevorstehenden Wettkampf zu stärken. "Komm' ein Bier vorher ist Pflicht!", forderte Saskia ihre Freundin auf und hatte sich schon am Bierstand angestellt. Obwohl andere Leute offensichtlich schon wesentlich länger auf ihre Erfrischung gewartet hatten, war sie nach nicht einmal zwei Minuten mit zwei notdürftig bis zum Rand gefüllten Bechern wieder bei ihrer Freundin. "Geht doch nichts über ein gewinnendes Lächeln", lachte sie laut heraus. Sie schien wirklich ihren Spaß zu haben, während sich Sandra doch eher unwohl fühlte. 


Die Sangesschlachten der beiden Fangruppen und dann und wann aufleuchtende Bengalfeuer trugen das übrige dazu bei. "Die ganz harten sind sowieso nicht hier, die treffen sich immer auf irgendwelchen Plätzen, um sich gegenseitig zu vertrimmen.", versuchte Saskia ihrer Freundin ein wenig das Unbehagen zu nehmen. Mit dem Rücken an eine mobile Ticketverkaufsstelle gelehnt, die allerdings ob des ausverkauften Spieles geschlossen hatte, standen sie ein wenig abseits und betrachteten die Leute, die an ihnen vorüber zogen. Ein uniformierter Zug Bereitschaftspolizei kam vorbeimarschiert und bezog gegenüber den gegnerischen Fans Stellung. "So Uniformen haben ja etwas, was die Menschen stark macht,", kam natürlich sofort der Kommentar der Psychologin Saskia, und Sandra musste grinsen. Nachdem die beiden ihr Bier geleert hatten, wurde Saskia zunehmend ungeduldig, "Los, lass uns reingehen, die Mannschaft begrüßen!". Aus Sandras Augen sprach pures Unverständnis, aber sie folgte Saskia auf dem Fuß. "Hier ist unser Eingangstor," Saskia zeigte auf eine lange Schlange Fans vor einem vergitterten Einlass. Auf beiden Seiten standen moderne Barcodescanner, die die Tickets der Zuschauer überprüften und danach den Eingang freigaben. Eine nette Securitymitarbeiterin tastete Sandra und Saskia kurz auf verbotene Gegenstände ab und schon waren sie drinnen. "Dort, Block 12, das ist unserer," Sandra zeigte auf einen Durchgang. Durch den Gang konnte man jetzt schon einen Teil des Rasen sehen. Noch nie hatte Sandra so grünen und saftigen und akkurat getrimmten Rasen gesehen. Fast zu schade zum Fußballspielen dachte sie bei sich. Saskia war schon vorgegangen und hatte die Plätze gefunden. 

Froh einen Moment sitzen zu können ließ sich Sandra auf ihrer Sitzschale nieder, um einen Augenblick später unsanft zum Aufstehen gezwungen zu werden, als der Stadionsprecher rief "und jetzt liebe Fans, gebt mir ein WEEEEE" - "WEEEE" antworteten die bereits anwesenden Fans. "Gebt mir ein IIIIIIIIIIII" und wiederum skandierten die Zuschauer den aufgeforderten Vokal. So ging es weiter bis der Name des zu begrüßenden Spielers durchbuchstabiert war. Inzwischen hatten zwei Personen das Spielfeld betreten und der Torwart winkte den Anwesenden zu und bedankte sich für die herzliche Begrüßung. Währenddessen lief auf den beiden Großbildleinwänden des Stadion die Pregameshow. Werbeeinblendungen wechselten sich Glückwünschen an anwesende Geburtstagskinder ab. Zwischendurch schwenkte der Kameramann ein wenig über das Publikum um auf einem eng umschlungenen Pärchen stehen zu bleiben, die damit beschäftigt waren, sich intensiv zu küssen, bis alle anwesenden Fans anfingen die beiden anzufeuern und zu klatschen. Es hatte schon etwas entblößendes, die beiden jungen Leute bei einem so intimen Moment zu beobachten, aber in jedem steckt doch ein kleiner Voyeur, dachte Sandra bei sich. Jetzt hatten sie es bemerkt, das der Applaus ihnen galt und sie ließen voneinander ab. Sandra wurde totenbleich als sie erkannte wer der Mann in dem Pärchen war. "Das kann nicht sein", schoss es ihr siedend heiß durch den Kopf als Saskia atemlos rief: "Aber, aber das ist doch Marco!!!". 

Einen langen Moment war sie wie gelähmt, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, da zog Sandra ihr Handy aus der Tasche und wählte Marcos Telefonnummer. Als nach 4-5 Rufzeichen ihr Freund ans Telefon ging, konnte sie im Hintergrund schon die typischen Stadiongeräusche hören. "Sag' mir, das du nicht im Stadion bist. Sag' mir nicht Du das eben warst," sie war schon fast hysterisch als sie die Worte in den Hörer rief. "Sandra, das ist nicht so wie du denkst, ich kann dir das alles erklä.", aber sie hatte schon genug gehört. Es war als breche die Welt um sie herum zusammen. "Weg hier, ich muss hier weg", das waren die einzigen Gedanken die sie noch fassen konnte. Sie stand ohne ein weiteres Wort zu Saskia auf und verließ fast panisch das Stadion. Wenn es ihr nicht schnell genug ging, rempelte und schubste sie die Leute beiseite. Tränen liefen ihr übers Gesicht. "Was mache ich hier. Warum hat er das getan". Wirre Gedanken schwirrten wie aufgeschreckte Fliegen durch ihren Kopf. Endlich war sie an der Straßenbahnhaltestelle. "Ich halt das nicht aus, ich muss hier weg", das waren die einzigen Gedanken, die sie noch fassen konnte. Nach gefühlten Stunden war sie endlich zu Hause, immer noch nicht in besserer Verfassung. Auf dem Tisch lag immer noch die Zeitung mit den Stellenanzeigen, genau so wie sie sie vor ihrem Aufbruch hingelegt hatte. Das Telefon klingelte, und als sie auf dem Anrufbeantworter Marcos Stimme hörte, fiel ihr Blick auf eine Anzeige der Bundeswehr: 'Ihre Karriere bei den Streitkräften, als Ingenieur oder Arzt. Es erwartet sie eine abwechslungsreiche, weltweite Tätigkeit' ...

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